Die Welt dreht sich weiter. Einfach so.

Gestern, Heute, Morgen, Übermorgen, Überübermorgen in der Trauer

Die Welt dreht sich weiter. Einfach so. - Gestern, heute, morgen und übermorgen in der Trauer.

Für manche war es wohl vorhersehbar. Für mich kam es aus heiterem Himmel. Ich konnte das nicht vorhersehen. Vielleicht wollte ich es nicht.

 

Die Krebsdiagnose hat meine Mutter im Sommer 2010 erhalten. Am 10. Dezember desselben Jahres ist sie gestorben.

 

Gestern

Von so etwas hört man. Von so etwas liest man. So etwas passiert in anderen Familien, in Filmen und Büchern. Man hat dann ein bisschen Mitleid, kann ein bisschen mitfühlen, verdrückt vielleicht sogar die eine oder andere Träne. Dann ist es aber auch wieder gut. Unvorstellbar für das eigene Umfeld, für das eigene Leben.

 

Heute, morgen, Übermorgen

Ich sitze am Bett meiner Mutter. Ich halte ihre Hand. Ich gehe auf und ab in ihrem Zimmer und auf dem Gang der Palliativstation. Palliativstation. Ein Wort, das ich bis gestern noch nie gehört habe. Zumindest nicht bewusst. Von dem ich gar nicht wusste, was es bedeutet.

 

Die Ärztin sagt uns, dass meine Mutter heute, morgen oder übermorgen sterben wird. Ich kann nicht glauben, was sie da sagt. Sie sagt uns das einfach so. Mitten ins Gesicht. Ohne groß drum herum zu reden. Als würde sie uns Tickets für eine Reise anbieten. Heute, morgen oder übermorgen kann es losgehen. Bereitet euch darauf vor! Das spricht sie nicht aus, meint sie aber.

 

Wie bereitet man sich denn darauf vor - auf den Tod? Auf das Sterben? Ich sehe meinen Vater weinen. Meinen Bruder. Menschen, die sonst eigentlich nicht weinen. Was passiert hier gerade? Passiert das mir?

 

Es war „übermorgen“ als meine Mutter das letzte Mal geatmet hat.  Eine lange Zeit saßen wir, ihre Familie, an ihrem Bett, haben geweint und gelacht, haben sie lächeln sehen, haben das Unfassbare versucht zu fassen.

 

In diesem Winter lag besonders viel Schnee im Bergischen Land. Schon vor Weihnachten, am 10. Dezember. Alleine fahre ich mit dem Auto über die verschneiten Straßen vom Krankenhaus nach Hause zum Haus meiner Eltern. Es ist schon spät abends. Es sind nicht mehr viele Menschen und Autos auf den Straßen unterwegs. Ich fahre an einer Tankstelle vorbei. Hellerleuchtet. Ich sehe einen Mann an einer Zapfsäule, der sein Auto tankt. Ganz normal. Eigentlich. Eine ganz alltägliche Szene. Eigentlich.

 

Für mich ist nichts mehr alltäglich. Heute ist nicht alltäglich. Gestern war nicht alltäglich. Letzte Woche war nicht alltäglich, die letzten Monate nicht. Nichts wird mehr alltäglich. Erstmal nicht.

 

Auf mich wirkt es völlig verstörend und absurd. Dass dieser Mann dort, gerade jetzt, einfach so sein Auto tankt! Gerade jetzt, wo doch gerade erst meine Mutter gestorben ist. Einfach so. Spürt er nicht dieses wahnsinnige Loch? Diese Leere? Den Unterschied zwischen vorhin und jetzt? Zwischen gestern und heute? Zwischen damals und übermorgen?

 

Nein. Natürlich nicht.

 

Ich merke: Die Welt dreht sich weiter. Einfach so. Ohne zu fragen. Ohne zu warten. Einfach weiter.

 

Überübermorgen

Ich bin auf einmal mittendrin. In diesem Film. In diesem neuen Leben. Ohne Mutter. Mit unbekannten Gefühlen. Mit unbekannten Aufgaben. Ich wundere mich über mich selbst. Über das, was ich alles tun, sagen, aushalten kann. Ich bin dankbar für die Menschen, die da sind, die mich unterstützen. Die schöne Dinge sagen über meine Mutter. Die mitfühlen. Ich wundere mich über Worte und Sätze, die trösten sollen, die aber eher schmerzen. Ich helfe den Menschen in ihrer Unsicherheit und im Umgang mit mir. Dabei verstehe ich mich selbst nicht mehr.

 

Für mich ist nichts mehr alltäglich seit einiger Zeit. Gestern war nicht alltäglich. Letzte Woche war nicht alltäglich, die letzten Monate nicht. Nichts wird mehr alltäglich. Erstmal nicht. Vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Vielleicht überübermorgen.

 

Ich merke: Die Welt dreht sich weiter. Einfach so. Mal langsamer, mal schneller. Einfach weiter. Und ich versuche mitzukommen, anzuhalten, aufzuhalten, stehenzubleiben, zurückzublicken, nach vorne zu schauen.

 

Und deine Welt? Dein Gestern & Dein Übermorgen?

Kennt ihr diesen Moment, in dem ihr erschrocken feststellt, dass sich die Welt einfach weiterdreht? Ohne Rücksicht auf Verlust. Für mich hat es sich angefühlt, als würde mein Herz zerreißen. Wie war das für dich? Dieses Gefühl, dass die anderen diesen für dich so riesigen Unterschied gar nicht zu merken scheinen.

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